Bischöfin Steen informiert sich über Seelsorge in der Psychiatrie und feiert zwei besondere Gottesdienste
Heiligenhafen. Wenn da vorne jemand gut Orgel oder Klavier spielt und alle schön laut mitsingen, dann kann man hinterher laut klatschen, sogar im Gottesdienst. Jedenfalls wenn dieser im AMEOS Klinikum Heiligenhafen stattfindet, wo gesellschaftlich normierte Verhaltensweisen oft ganz weit weg sind. Patienten und Bewohner der psychiatrischen Einrichtung zeigen ungefiltert, ob sie sich freuen, traurig sind, sich langweilen oder gerade etwas ganz anderes im Kopf haben, das sie sofort loswerden wollen.

Dann greifen schon mal die Ehrenamtlichen sanft ein, damit nicht alles durcheinandergeht. Doch ansonsten wird zugehört, engagiert mitgemacht. Manche der Menschen, die sich sonst kaum ausdrücken können, sprechen das Glaubensbekenntnis oder das Vaterunser innig mit – ohne Textvorlage. Mag sein, dass viele der Frauen und Männer im AMEOS-Klinikum in einer ganz eigenen, kaum zugänglichen Welt im Kopf leben. Aber sie sind dort nicht allein, so viel ist mal sicher.
„Jeder hier hat seine ganz einzigartigen Begabungen. Wir alle sind einzigartig und von Gott geliebt“, sagt Bischöfin Nora Steen als sie jüngst am Sonntagmorgen gemeinsam mit Krankenhausseelsorgerin Luise Müller-Busse vor der Gottesdienstgemeinde aus 50 Patienten, Krankenhauspersonal, Ehrenamtlichen und Vertretern des Kirchenkreises in der Kapelle der Klinik steht.

Links steht Pastorin Luise Müller-Busse, rechts die Bischöfin.
Bei der anschließenden Gesprächsrunde, als die Patienten bereits wieder auf ihren Zimmern sind, wird deutlich: „Die Kirche gibt hier den Bewohnern sehr viel Halt und Geborgenheit und Sicherheit. Das ist ein ganz großer Gewinn für die Menschen, die bei uns leben“, wie es Oliver Schwartz, Leiter der Fachpflege, ausdrückt. „Wir sind für jede Hilfe dankbar“, bestätigt Chefarzt Dr. Holger Jahn, der aus seiner Erfahrung als Psychiater genau weiß, wie wichtig es „ganz vielen Bewohnern und Patienten ist, wo sie reinkommen und in Kontakt kommen können, wo sie sich gesehen fühlen. Das ist teilweise existenziell wichtig.“
Bischöfin Steen hört sehr genau hin, spricht von der Notwendigkeit, den Bereich der Seelsorge im Allgemeinen, speziell aber auch in der Psychiatrie zu stärken. „Hier geht es nicht um Diagnosen. Hier geht es um den Blick auf den Menschen, unabhängig davon, was es da schon an medizinischer Vorgeschichte gibt“, sagt sie. Dass die Kirche wegen sinkender Mitgliedszahlen und schwindender Ressourcen bei diesen Aufgaben zunehmend auf ehrenamtliches Engagement angewiesen ist, bleibt dabei nicht unausgesprochen. Erst recht nicht, wo doch das ehrenamtliche Team um Pastorin Luise Müller-Busse mit dabei ist. „Wenn die Ehrenamtlichen nicht da wären, könnten wir hier in der Psychiatrie keine Gottesdienste zusammen feiern“, hält Müller-Busse fest. Denn mindestens vier Personen würden gebraucht, um bei Bedarf auf einzelne Patienten eingehen zu können.

Bischöfin beim Gottesdienst in der Kapelle/Gottesdienstraum, an dem etwa 50 Menschen teilnahmen
„Ich komme sehr gerne hierher und nehme auch ganz viel mit“, so oder so ähnlich sagen es mehrere der Ehrenamtlichen. Für die Pastorin ist das Hand-in-Hand von Psychiatern und Psychologen, Pflegekräften und Ergotherapeuten mit der Seelsorge „wie ein großes Netz mit vielen Knoten“, um die Menschen aufzufangen.
In der Runde werden auch Probleme angesprochen, mit denen sich Ärztekollegium und Klinikleitung konfrontiert sehen. Chefarzt Jahn verweist etwa auf aus seiner Sicht zu enge gesetzliche Bestimmungen. Die machten es oft unmöglich, Menschen gegen ihren Willen zu behandeln, obwohl sie möglicherweise ganz akut der Hilfe bedürften. Hintergrund ist ein Gesetz, das eigentlich zum Schutz der Patienten gedacht ist. Außerdem spiele Obdachlosigkeit bei den Patienten eine immer größere Rolle, erläutert Jahn. Nicht selten müssten Menschen aus dem Krankenhaus hinaus direkt in die Obdachlosigkeit entlassen werden.
Und die Aggressivität nimmt zu, in der Gesellschaft und bei Patienten: „Das hat ganz viele Gründe, das kann man nicht an einem festmachen. Aber ja, die Bevölkerung wird kränker. Das merken wir jeden Tag, in der Psychiatrie noch einmal besonders“, erklärt später Krankenhausdirektor Sebastian Körner, der eine seiner Einschätzung nach noch immer vorhandene gesellschaftliche Stigmatisierung psychiatrischer Kliniken beklagt.
Nach der Gesprächsrunde geht es in eine geschlossene Abteilung, wo Menschen leben, die schon mal gewalttätig geworden sind. An der kurzen Andacht nehmen etwa zehn von ihnen teil. Es wird gesungen; „Kein schöner Land“ wird gefordert. Im Bibeltext geht es um das Gleichnis vom verlorenen Schaf aus dem Lukasevangelium. „Welcher Schäfer, der 100 Schafe hat und eines davon verliert, lässt nicht 99 in der Wüste zurück, um das eine verlorene Schaf zu suchen, bis er es findet und freudig nach Hause tragen kann?“, fragt Jesus die Schriftgelehrten.
Das Gleichnis führt zu Diskussionen unter den Patienten, für die das eine ganz unerhörte Geschichte zu sein scheint. Ein junger Mann ergreift das Wort, spricht davon, dass er viel Schlechtes durchgemacht habe im Leben. Er ist akustisch schwer zu verstehen. Er fragt die Bischöfin, ob sie glaube, dass Gott ihn sehe und ob er eine Zukunft habe, was sie bejaht. „Ich weiß doch, dass er mich nie alleine lässt“, sagt er. Die anderen 99 Schafe im Übrigen auch nicht, ergänzt er noch. Es sind Sätze, die nicht nur die Bischöfin schlucken lassen.
Es wird, weil es die Patienten es wollen, ein zweites Mal das Lied „Gottes Liebe ist so wunderbar“ gesungen, dann ist es Zeit für den Abschied. Einige Patienten schütteln der Bischöfin noch die Hand. Sie sagt wenig später draußen vor der Tür: „Das ist ganz unschätzbare Arbeit hier.“
Geschrieben am:
20. Februar 2025